Vargas, Fred by Bei Einbruch der Nacht
Autor:Bei Einbruch der Nacht [Nacht, Bei Einbruch der]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2012-03-26T12:37:20+00:00
20
Camille saß mit gekreuzten Beinen auf einem abgeflachten Felsen, den Hund auf ihren Stiefeln, und beobachtete, wie sich langsam die Nacht über den Mercantour senkte. Überall, wo ihr Blick suchte, stieß er sich an dem schwarzen, ehrfurchtgebietenden und trostlosen Bergmassiv.
Früher oder später mußte man aus den Bergen herauskommen. Früher oder später wäre Massart ohne deren Schutz. Sicher. Die Hypothese mit der Werkstatt in Loubas klang interessant. Aber vielleicht täuschten sie sich alle.
Vielleicht folgte Massart überhaupt keiner Route und suchte auch kein Auto. Vielleicht blieb er auf ewig im Mercantour versteckt. Jetzt, wo Camille dieses riesige Gebiet vor Augen hatte, das so verlassen war wie zu Anbeginn der Welt, hielt sie das für möglich. Siebzig Kilometer Felsen und fast unberührte Wälder und noch viel mehr, wenn man alle Abhänge und Schluchten, alle Ecken und Winkel dazuzählte. Hundertmal mehr, tausendmal mehr. Massart konnte über ein ungeheuer großes menschenleeres Gebiet verfügen und mußte nur seine Fangzähne aufreißen, um Wasser, Fleisch und Opfer in Hülle und Fülle vorzufinden.
Das Problem war die Kälte. Camille zog ihre Jacke enger um sich. Jetzt, wo es ganz dunkel geworden war, herrschten nur noch zehn Grad, und um vier Uhr morgens wären es nur noch sechs, hatte der Wacher angekündigt. Und es war Ende Juni. Sie streckte ihren Arm nach dem Weißwein von Saint-Victor aus und schenkte sich noch einen Schluck ein. Würde Massart es bei der Kälte aushalten? Monatelang im Schnee? Nur von seinem Wolfspelz geschützt? Er könnte Feuer machen, aber das Feuer würde ihn verraten.
Also würde er frieren. Also würde er früher oder später aus dem Mercantour herauskommen, aber eben nicht unbedingt morgen in Loubas, wie es für den Wacher und Soliman unzweifelhaft festzustehen schien. Deren Sicherheit überraschte Camille. Die beiden waren sowohl vom Erfolg als auch vom Sinn und Zweck ihrer Unternehmung überzeugt. Während ihr die ganze Verfolgungsjagd manchmal vernünftig und vertretbar und manchmal absurd und sinnlos vorkam.
Vielleicht würde Massart das Massiv erst bei der ersten Kälte im Oktober verlassen. Würden sie bis dahin, in vier Monaten, vor Loubas im Viehtransporter kampieren? Niemand sprach davon, niemand erwähnte den unsicheren Ausgang dieser Reise.
Wenn sie einen Wolf mit Sender verfolgen würden, wären sie auch nicht sicherer. Camille schüttelte im Dunkeln den Kopf, stellte den Kragen ihrer Jacke hoch und nahm einen Schluck von dem heimtückischen Wein. Sie war von gar nichts überzeugt.
Sie sah die Geschichte nicht mit der Ungezwungenheit auf sich zukommen, wie es der Greis und das Kind taten. Sie sah etwas Dunkleres, Chaotischeres, im Grunde etwas Schrecklicheres als diese klar vorherbestimmte Fährtensuche, an die sie sich, die Landkarte in der Hand, klammerten.
Und etwas Gefährlicheres. Camille hielt das Fernglas vor ihre Augen. Man konnte an den felsigen, pechschwarzen Abhä ngen nicht das Geringste erkennen. Massart konnte mitsamt dem Wolf zehn Schritte von ihr entfernt vorbeischleichen, und sie würde es nicht einmal bemerken. Der Hund beruhigte sie. Er würde ihn wittern, bevor Massart mit seinen Tieren über ihr wäre. Camille kraulte sein Fell. Es war zwar ein Hund, der nach Hund stank, schon klar, aber sie war ihm dankbar dafür, daß er sich auf ihren Stiefeln zusammengerollt hatte.
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